Spieglein_Joy Review

Spieglein, Spieglein an der Wand hat so gar nichts märchenhaftes, das Geschirr ist zerschlagen, der Spiegel liegt zersplittert vor uns und keine gute Fee ist in Sicht. Aber manchmal bringen Scherben Glück und Menschen sind immer auch zu Einsicht und Veränderung in der Lage.

Leben ist Bewegung. Bewegung ist Fortschritt, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.                Was geschieht, wenn Fortschritt und Stillstand aufeinandertreffen und zu schier unlösbaren Konstellationen führen, beschreibt die Autorin in autobiographisch gefärbten kurzen Szenen ihrer Familiengeschichte vom Nachkriegsengland bis zur Jahrtausendwende. In den sich jeweils anschließenden Passagen werden diese persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen im öffentlichen Zeitgeschehen gespiegelt und dadurch verständlich gemacht.

Eine Familie verlässt ihr zuhause, ihre Heimat und auch, wenn es von Irland nach Großbritannien ein kleiner Schritt zu sein scheint, sie verlässt ihren Kultur- und in Teilen sogar ihren Sprachraum, um ihr Glück zu machen. Es war die Hoffnung auf ein sicheres, besseres Leben, auf Respekt und soziale Gerechtigkeit, die sie antriebt. Das Großbritannien der Nachkriegsjahre aber war zusammengerückt und sah in den Fremden vor allem eine Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Es war ein Überlebenskampf für alle und die Fragen nach Integration und gesellschaftlicher Teilhabe, nach Moral und Integrität, nach sozialer und humanitärer Gerechtigkeit prägten die Lebenswirklichkeit.

Wie sehr gesellschaftliche und politische Traditionen einen Konservatismus im Denken und Handeln zementieren, friedliche Entwicklungen unmöglich machen, zeigt sich vor allem in den 60er und 70er Jahren. Die Geschichte einer ganzen Generation, die im Wandel der Zeit ihren Platz finden will, die den Blick zurückwirft und gleichzeitig aber unsentimental und mutig nach Veränderung und Fortschritt strebt. Es ist die Zeit der Umbrüche, nicht nur in der britischen Gesellschaft: Studenten, Frauen, Homosexuelle fordern mehr Rechte und Freiheiten; Kunst und Musik versuchen Gefühle auszudrücken, für die es bis dahin keine „Sprachmuster“ gab. Wen wundert es da, dass auch Regierungen dieser Zeit „mehr Demokratie wagen“ wollen.

Die Unbeweglichkeit ist zu finden in den Bewahrern der alten Moralvorstellungen, den Konservativen, Eltern wie Politikern, die als Mahner und moralische Instanz erkennbar hadern mit diesen Entwicklungen und vor dem „neuen, ausschweifenden Lebensstil“ warnen. Sie stehen weiterhin für die Traditionelle Werte, für die gesellschaftlichen Hierarchien der upper- und lower-class, für Effizienzdenken, für ein durchgetaktetes öffentliches und privates Leben.

Die Autorin sieht in diesen alten, konservativen Denk- und Verhaltensmustern, die Ursachen des ewig gestrigen. Sie prägen Großbritannien bis heute und haben sogar den Brexit möglich gemacht. Es sind tief verwurzelte Ängste und Unsicherheiten vor dem Neuen, dem Machtverlust, vor Veränderung. Für das Neue gibt es keine Schablonen! Sie arbeitet heraus, wie sehr das öffentliche und private Leben von mehreren Wirklichkeiten geprägt wird, sie zeigt sprachliche Abgründe auf, so dass Alltägliches schnell zwielichtig und doppelbödig erscheint. Dieser spiegelhaften Mehrdeutigkeit haftet ein muffiger Geruch an und es entstehen beim Lesen spießige Bilder von Frauen am Herd und Männern, die das Geld nachhause bringen.

Mir hat besonders gefallen, dass M.J. Boyle über eine Zeitspanne schreibt, die ich selbst erlebt habe. Mich berühren besonders die Frauengestalten in ihrem Bemühen, die Familie zusammenzuhalten, Brücken zu schlagen ins jeweils neue Umfeld und sich doch viel zu oft ohnmächtig ein und unterordnen. Nur wenige sind bereit zum radikalen Abbruch und Neuanfang, wenn nötig sogar in einem anderen Land. Ob es die richtige Entscheidung war, Veränderung zu wagen, das weiß man oft erst sehr viel später. Frieden zu schließen zwischen dem was war und dem was sein wird gelingt nur dadurch, das Sowohl-als-auch zu sehen und daraus immer wieder neue Kraft zu schöpfen, einen eigenen Weg zu suchen.                                                        

Regina Stenke, Germany

 

 

 

 

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